Mit dem bildhaften Ausdenken von etwas – dem Zeichnen und Modellieren – beginnt bei Thomas Schütte alles. Er beginnt mit dem, was denkbar und darstellbar ist, also mit dem Möglichen und nicht mit den realen Dingen. Über Jahre hinweg zeichnete Schütte private Motive – Blumen, Gemüse, Früchte, Stofftiere, Bildnisse von Frauen. Dafür entwickelte er eine Darstellungsweise mit Tuschfeder oder Pinsel, die den Gegenstand knapp und elegant notiert: Er umreisst die Konturen, deutet die Umgebung an und setzt manchmal, bevor er zum nächsten Motiv übergeht, noch einen wasserfarbebunten Kontrapunkt. Für die handlichen Formate braucht Schütte kein Atelier, geeigneter für die Arbeit ist der häusliche Tisch in nächtlicher Einsamkeit.
Oft entstanden Zeichnungen in losen Folgen, in denen Schütte ein Motiv in Varianten durchspielte. Dabei erlaubte er sich auch Ausflüge ins Erzählerische wie etwa in der Bildfolge «Flucht». Die zehn durchnummerierten Blätter sind zunächst ohne Erläuterung aneinandergereiht, doch in Blatt 5, das als Titelblatt fungiert, findet sich die Bezeichnung «Storyboard». Es handelt sich also um einen filmischen Ablauf, bei dem die einzelnen Bildeinstellungen, die Close-ups und Totalen, so bestimmt sind, dass sich eine Erzählung ergibt. Ohne dass Figuren und Umstände erläutert werden, ahnt man Zusammenhänge: Eine heftige Auseinandersetzung steht am Anfang, nach einem Schnitt folgt das Bild eines mehrstöckigen Gebäudes, das sich an die Festungen und Burgen reiht, die bei Schütte verschiedentlich vorkommen. Danach zwei Figuren, die sich unterhalten, möglicherweise über den jungen Mann, der uns im nächsten Bild mit gefasstem Blick entgegentritt und den man als den Helden sehen könnte. Im zweiten Teil, der auf den Titel folgt, ist die Flucht offenbar in Gang, denn eine Berglandschaft mit darin verstecktem Tunneleingang, der Blick in den tiefen Tunnel, der durch die Nacht rasende Zug und das Zugabteil mit zwei eingenickten Fahrgästen evozieren eine transalpine Reise an einen unbekannten Ort. Am Ende steht ein schwarz gefasstes Bullauge – offenbar ist man nun bereits auf hoher See –, das den Blick auf eine Insel mit der Silhouette hoher Bauten freigibt. Ist die Flucht der Rückzug auf ein fernes Eiland, auf dem der Flüchtige sich sicher fühlt? Ist er unterwegs zu einem Sehnsuchtsort, an dem er Streit und Überwachung entgeht? Abschliessend lässt sich dies nicht beantworten, denn das Storyboard umreisst den Traum und nicht dessen Auflösung. Die assoziativen Sprünge von Bild zu Bild, der Aufbruch aus der engen Umgebung und die Reise ins erträumte Weite, sie sind nicht nur Metaphern für die Produktion von Fantasien, sie feuern sie an. Das Romantische an Schüttes Vision liegt darin, dass er den Blick auf etwas Unbestimmtes gerichtet hat, das sich am Horizont zeigt und ihn zum Zeichnen bringt. Der Blick durch das Bullauge ist ein Sinnbild für die Existenz des Künstlers, die Schüttes Arbeit in immer neuen Fluchtbewegungen umreisst.
Dieter Schwarz
Weitere Werke von Thomas Schütte in der Kunstsammlung der Baloise:
Inv.-Nr. 0674, Flucht, 13.03.1997, Aquarell, Tusche und Kreide auf Papier, 28,6 x 16,5 cm
Inv.-Nr. 0677, Flucht, 13.03.1997, Aquarell, Tusche und Kreide auf Papier, 28,6 x 16,5 cm
Inv.-Nr. 0678, Flucht, 13.03.1997, Aquarell und Tusche auf Papier, 28,6 x 17 cm
Inv.-Nr. 0679, Flucht, 13.03.1997, Aquarell, Tusche und Kreide auf Papier, 28,6 x 16,9 cm
Inv.-Nr. 0681, Flucht, 13.03.1997, Aquarell und Tusche auf Papier, 28,6 x 16,9 cm
Inv.-Nr. 0682, Flucht, 13.03.1997, Tusche und Kreide auf Papier, 28,6 x 16,7 cm
Inv.-Nr. 0683, Flucht, 13.03.1997, Aquarell, Tusche und Kreide auf Papier, 28,6 x 16,7 cm
Inv.-Nr. 0684, Flucht, 13.03.1997, Aquarell, Tusche und Kreide auf Papier, 28,6 x 17 cm
Inv.-Nr. 0686–0687, Kopf, 1992, Tinte auf Papier, 64,5 x 50 cm
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