«Die Natur hat Fantasie»(1)
Wer am Basler Picassoplatz durch Luciano Fabros «Giardino all’italiana» spaziert, bemerkt zunächst eine rhythmisch angeordnete Reihe vertikaler Pfeiler in regelmässigen Abständen. Von Zeit zu Zeit entpuppt sich einer dieser Pfeiler als Obstbaum, der einem Flecken Grün entspriesst. Es scheint, als wären diese Bäume gewaltsam aus dem Untergrund emporgeschossen und hätten dabei die grossen schwarzen und weissen Granitplatten gesprengt, aus denen der sonst ordentlich gepflasterte Boden besteht.
Nehmen wir Fabro beim Wort, merken wir, dass wir nicht einfach über einen Platz in Basel gehen, sondern über das Bild eines riesigen Sees, in dem sich die Sterne spiegeln. Wir bewegen uns zwischen zwei Hemisphären: der Sternenkonstellation der südlichen Hemisphäre und dem Himmel darüber. «Ich wollte die Erde transparent machen, wie wenn sie nicht mehr existieren würde», erklärt der Künstler.(2)
Sternenartig sind elektrische Leuchtkörper in die dunklen Platten eingelassen, helle Granitplatten zeichnen für uns den Pfad der Milchstrasse auf den Boden und versetzen uns in eine Zeit zurück, in der die Sterne für die Menschen nachts die einzige Orientierungshilfe darstellten. Fabros sternenübersäte Suche ist ebenso physisch wie metaphysisch: Alle drei Teile von Dantes «Göttlicher Komödie» enden mit dem Wort «Sterne», dem Ziel der spirituellen Reise des Erzählers. Die Erde hat den Himmel durchbrochen. Makrokosmos und Mikrokosmos greifen ineinander, und es wird ein Dialog zwischen beiden angestrebt.
Die Pfeiler und Bäume auf dem Platz haben ebenfalls eine doppelte Funktion. Fabro wollte zeigen, dass die Natur vom Menschen bearbeitet wird, und wählte den Weinbau als Sinnbild dafür. Von diesem Gedanken ausgehend stellte er fest, dass in alten Weinbauregionen, etwa im Tessin, archetypische Bauelemente in Gestalt von Pergolen zum Einsatz kamen, Elemente, die symbolische Bedeutungen und funktionelle Aspekte in sich vereinen. So kam er auf die Idee, eine rhythmische Ordnung in Form von architektonisch integrierten Pfeilern zu schaffen, die Rebstangen nachempfunden sind. Das rechtwinklige Gitterraster, das den Pfeilern und Bäumen zugrunde liegt, versetzt uns in die Renaissance zurück, zum Fluchtpunkt der Linearperspektive, zu den architektonischen Abhandlungen von Leon Battista Alberti und Donato Bramante und noch weiter zurück zu Vitruvs’ Theorie von den Ursprüngen der Architektur, derzufolge die Menschen in Hütten lebten, die aus Bäumen gebauten Lauben nachempfunden waren. Die gezähmte Natur wird Architektur. So entsteht eine weitere Form der Synthese zwischen zwei Gegensätzen: dem greifbaren Stein und den zeitlosen Prinzipien der Mathematik.
Obwohl es für Passanten nicht sofort ersichtlich ist, knüpfen Fabros Ideen für diesen Platz an die Tradition des Humanismus an. In Raffaels «Schule von Athen» (1509–1511) zeigt Platon zum Himmel hinauf und Aristoteles hinunter zur Erde, im Bestreben einen versöhnenden mittleren Punkt zwischen den beiden Extremen zu finden. Raffael malt sich selbst neben Geometern und Mathematikern, während das gesamte Fresko die Harmoniegesetze zum Ausdruck bringt, die Kunst, Musik, Geometrie und Architektur miteinander teilen.
Die aus dem Boden hervorbrechenden Bäume auf Fabros Platz erinnern an einen weiteren Meister der Renaissance, an Leonardo da Vinci und seine Wandbilder in der Sala delle Asse im Castello Sforzesco in Mailand. Da Vinci stellte dort riesige Baumwurzeln dar, die Schicht um Schicht die gigantischen Naturfelsen und Steine durchbrechen, die für die Schlossmauern stehen. Bei Leonardo wie bei Fabro sind Natur und Kultur durch zwei urtümliche antithetische Kräfte miteinander verwoben. In beiden Fällen brechen die mächtigen Wurzeln aus den Steinen hervor, indem sie sie zersetzen und sprengen. Leonardo und Fabro vermitteln uns ein phänomenales Gefühl für die Instabilität der Schöpfung. «Denn», so Fabro, «die Natur hat Fantasie.»(3)
Ein junges Paar mit einem Kinderwagen überquert den Platz, und im Handumdrehen kehren wir von diesen hochfliegenden universellen Gedankengängen zurück zur Realität des Hier und Jetzt: zu einem Platz zur Erquickung des Menschen, einem Moment jenseits der Alltagshektik, dem idealen Ort für eine kurze Auszeit, unbeschwerte Gedanken und ein lockeres Gespräch.
Sharon Hecker
(1) Sabine Lubow, «Gespräch mit Luciano Fabro. Über Plätze, Natur, Architektur und Mensch», in: Hauszeitung der Basler Versicherungs-Gruppe, 2, 1994, S. 11–13,
hier S. 13.
(2) Ebd., S. 12.
(3) Ebd., S. 13.
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