2011 veröffentlichte der Kanadier Stephen Waddell «Hunt and Gather», eine Sammlung von Fotografien aus einer beobachtenden Perspektive. Der Titel war eine Anspielung auf den Begriff des Wanderfotografen, der auf gut Glück durch die Welt zog, stets auf der Suche nach einer Gelegenheit zum Fotografieren. Natürlich ist kein Fotograf ein unbeschriebenes Blatt. Das Wandern erfolgt immer schon mit einem Erfahrungsschatz, der den Blick prägt und lenkt, auf der Suche nach Resonanz, Bestätigung oder Überraschung. Das ist der Modus Operandi der klassischen Strassenfotografie, vielleicht die einzige Bildgattung, die die Fotografie als ureigene für sich in Anspruch nehmen kann. Alle anderen Genres – Landschaft, Stadtansicht, Porträt, Stillleben – sind aus einer wesentlich älteren Geschichte der bildlichen Darstellung übernommen. Dennoch ist die Strassenfotografie auch ein Weg, um mit diesen anderen Genres in Beziehung zu treten. Ein Strassenfotograf kann ein typischer Vertreter seines Mediums sein und dennoch an der langen Geschichte der bildlichen Darstellung teilhaben und sie weiterführen.
Waddell ist mit der Geschichte der Darstellung des Alltagslebens eng vertraut. Dazu gehören die Geschichte der Strassenfotografie, aber auch die französische Malerei des 19. Jahrhunderts (Édouard Manet, Edgar Degas, Gustave Caillebotte, Berthe Morisot, Édouard Vuillard) und weitere historische Momente, in denen die eingehende Beobachtung des anonymen Stadtlebens ausserordentliche Bilder hervorbrachte.
Der in Vancouver lebende Waddell entwickelte seinen künstlerischen Ansatz in einem Klima, das von den Werken eines Jeff Wall, Rodney Graham und Stan Douglas geprägt war. Doch statt Bilder nach sorgfältiger Vorbereitung und in Zusammenarbeit mit anderen zu konstruieren, blieb Waddell leichtfüssig im Vertrauen darauf, dass die Art Bilder, die er machen wollte, zufällig entdeckt, in ihrem Potenzial erkannt und als Bild erfasst werden könnten. Es liegt eine Leichtigkeit in seinen Beobachtungen, ohne jede offenkundige Anspielung auf die Kunstgeschichte, und doch entspringt die Kraft seiner Bilder einem fundierten Wissen um die künstlerischen Errungenschaften der Vergangenheit.
Häufig ist Waddell ein einsamer Beobachter, der eine einzelne Gestalt in ihrem jeweiligen Tun fotografiert. Das kann eine Arbeit sein oder ein Moment der Ruhe. Jede Figur ist gewöhnlich von der Seite oder von hinten aufgenommen, aus vertrauter, aber nie aufdringlicher Nähe. Das heisst, dass die Figur nicht von ihrer Welt separiert, sondern als Teil von ihr, in sie vertieft gezeigt wird. Ob das Verhältnis von Figur und Welt malerisch und sozial harmonisch ist oder ob Anzeichen von Spannung erkennbar sind, letztlich ist das Darstellen seinem Wesen nach eine einfühlsame Kunst. Bei allem sensiblen Können, das sich hier kundtut, sind es am Ende empathische Gefühle, die Freude an der zufälligen Begebenheit und die Faszination der Erscheinung als solcher, denen Waddells Fotografien ihre Spannung verdanken.
David Campany
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