Lucy Skaers Zeichnungen sind Teil einer Werkgruppe mit dem Titel Solid Ground. Doch auch wenn die Titel festen Grund versprechen, begegnen wir beim Betrachten dieser beiden grossformatigen Arbeiten filigranen, fragmentierten Strukturen: Strichen, Schraffuren, Mustern und Ornamenten. Dazu kommen feine Blattgoldapplikationen, die den Blättern ein kostbares, aber auch zerbrechliches Aussehen verleihen. Andeutungen von Gegenständlichem werden sichtbar: So ist im Zentrum von «Solid Ground. Carpal» eine menschliche Figur zu erkennen, die sich abwendet. Die über das Blatt verteilten goldenen Formen in «Solid Ground. Tarsal» könnten ebenso Überreste von Gebäuden sein wie Teile von Mauern, die erst errichtet werden. Und sind nicht in der Mitte des Blattes mehrmals die gleichen sich gegenüberstehenden zwei Schattenfiguren zu sehen? Dreimal als schwarze Umrisse, einmal als weisse Leerstelle. Gerade in dieser Zeichnung ist der weisse Bildgrund mehr als nur Träger der Formen, er bildet selbst Figuren.
Die Figuren und Bildformen der beiden Zeichnungen erscheinen anziehend, aber auch rätselhaft. Das Auge wandert über das Blatt auf der Suche nach Figuren, Strukturen und Deutungshinweisen. Doch auch die Titel bringen keine Klärung. «Carpal» und «Tarsal» sind Wörter aus der Anatomie. «Carpal» bezeichnet den Handwurzelknochen, «Tarsal» den Fusswurzelknochen. So sind wir beim Lesen der Titel, dem Betrachten der Zeichnungen und dem Vergleich zwischen Bildtitel und Werk schon in einem Prozess des Sehens und Interpretierens. Und damit mitten im Werk von Lucy Skaer.
Die schottische Künstlerin arbeitet mit Zeichnungen, Skulptur und Film. Meist ist der Ausgangspunkt ihrer Werke eine Fotografie, die sie in einer Zeitschrift, einem Buch oder dem Internet findet. Im Prozess des Zeichnens oder beim Schaffen einer Skulptur eignet sie sich die gefundenen Bilder an, transformiert und verfremdet sie.
Über ihren künstlerischen Ansatz hat Skaer einmal gesagt: «Ich interessiere mich für Zwischenzustände, den Zustand, wenn sich etwas in etwas anderes verwandelt.»(1) Diesen Verwandlungsprozess kann man in den Zeichnungen der Kunstsammlung der Baloise beobachten, wenn eine Form plötzlich zu einer Figur wird. Das Verhältnis von Abstraktion und Gegenständlichkeit ist ein zentrales Thema der Werkgruppe.
Das wird auch in der Verwendung von Gold deutlich: Das Metall ist nicht nur ein Medium der Zeichnung, sondern inhaltlich ebenso wichtig. Skaer ist fasziniert von Gold, das sowohl ein konkretes Metall als auch ein abstrakter Wert ist. Eine Inspiration für die Künstlerin waren die nationalen Goldreserven. Auf diese verweisen die beiden Figuren in «Solid Ground. Tarsal», die Angestellte darstellen, die Gold umschichten.
Doch der «Zwischenzustand», von dem Skaer oben spricht, kann sich darüber hinaus auf ihre Arbeit allgemein beziehen. Dann bezeichnet er einen künstlerischen Prozess, der sich fremde Bilder aneignet. Aber auch das aktive Sehen des Betrachters ist Teil dessen. Vielleicht sogar die Hand- und Fusswurzelknochen, die die essenziellen Bindeglieder zwischen Arm und Hand, Bein und Fuss sind, also Voraussetzung für das (Be-)greifen und Gehen. Die Beweglichkeit des Sehens erscheint vor diesem Hintergrund als eigentliche – ebenso solide wie wandelbare – Grundlage ihrer Arbeit.
Dora Imhof
(1) «I’m interested in a state of between-ness, and that state you find if one thing transforms to another.» Zit. nach https://www.theguardian.com/artanddesign/2009/
dec/04/lucy-skaer-turner-prize-profile (30. April 2019).
Hauptnavigation
- DE
- EN