Als Jonathan Borofsky gleich nach seinem Abschluss an der Yale University 1966 in New York eintraf, galt sein Interesse weniger der künstlerischen Praxis als vielmehr der Frage, was uns anregt, über die Definition von Kunst und deren Sinn und Zweck nachzudenken. Er brachte also seine philosophischen Konzepte und Aphorismen zu Papier und widmete sich – um den täglichen Ablauf des künstlerischen «Tuns» zu thematisieren – numerischen Notationen, die später unter dem Titel «Counting from 1 to 3227146» (Von 1 bis 3227146 zählen) vereint werden sollten. Im Laufe der Jahre entwickelte Borofsky eine besondere Sensibilität für alltagsnahe industrielle Materialien. Seine Arbeit fand so ihren natürlichen Platz auf dem Papier, einem zugleich günstigen und allen zugänglichen Trägermaterial. Seine Begegnung mit dem Künstler Sol LeWitt und der Kunsttheoretikerin Lucy Lippard zu Beginn seiner Karriere ermunterte ihn dazu, seine Zeichnungen an den Wänden der von ihm genutzten Ausstellungsräume auszubreiten. Eine erste Ausstellung in der Paula Cooper Gallery 1975 und eine zweite im Museum of Modern Art in New York 1978 belegen seine besondere Gabe, die Anordnung seiner Werke als allumfassende Installation im Raum zu begreifen.
In der grossen Zeichnung (2,260,384) aus der Kunstsammlung der Baloise wird diese monumentale Herangehensweise an die Zeichnung ebenso deutlich sichtbar wie das Erbe der Minimal Art. Der Künstler hat sein Eingreifen hier maximal begrenzt, um die menschliche Figur aus dem kaum berührten Papier hervortreten zu lassen. In diesem auf wenige Linien reduzierten Körper zeichnet sich bereits der aus synthetischen Formen zusammengesetzte Umriss der grossformatigen Skulpturen ab, denen man später im öffentlichen Raum begegnen sollte, wie etwa dem «Hammering Man» (1989) am Aeschenplatz in Basel.
Die wichtigste Inspirationsquelle für Borofskys Zeichnungen bilden aber zweifellos seine Träume: Das sieht man auf der aus einem kleinen Ringbuch gerissenen Seite (2445660A), auf welcher der Künstler mit Filzstift eine Figur mit gezücktem Schwert gezeichnet hat, die drohend einen Scheinwerfer auf einen an der Wand lehnenden jungen Mann richtet. In einem Stil, der deutlich das Erbe Philip Gustons erkennen lässt, aber auch den Einfluss von Robert Crumb und eine leise Erinnerung an den Klassizismus der Renaissance, findet Borofsky hier zu seiner eigenen Sprache. Diese Einfachheit der Formen und der Zugang zur hermetischen Welt des Unbewussten verbinden sich auch im Porträt der Figur mit dem anomal in die Höhe gezogenen zotteligen Kopf (Zeichnung 2686889). Auf der Stirn scheint ein Dreieck mit einem Punkt in der Mitte gleichsam das dritte Auge dieses verdutzt wirkenden Wesens zu verkörpern. Der halslose Kopf ruht auf einem blattähnlichen Gebilde mit vier an Insektenbeine erinnernden Stängeln. In dieser hybriden Welt, in der sich unterschiedliche Reiche berühren und durcheinandergeraten, findet Borofsky auch Tiere, wie den Vogel, der sich im Flug mit einer spiralförmigen Zeichnung vermählt, oder einen riesigen Fisch, der mit seinem ausdrucksstarken Blick einer nur flüchtig angedeuteten menschlichen Figur gegenübersteht.
In der gekonnten Verbindung einfacher Formen mit einer für jedermann verständlichen Bildsprache spiegeln die Zeichnungen Jonathan Borofskys seine universelle Vision der Kunst, die er am Rande der grossen urbanen Zentren und unabhängig von den aktuellen Strömungen seiner Zeit entwickelt hat.
Julie Enckell Julliard
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