Enzo Cucchi, ein wichtiger Vertreter der Transavanguardia(1), will sein Gegenüber nicht allmählich überzeugen, sondern es soll die von ihm angebotene Wahrheit «wie vom Blitz getroffen» begreifen. Um dies zu erreichen, abstrahiert Cucchi von allen Nebensächlichkeiten und konzentriert sich ganz auf wenige, deshalb umso gewichtigere Formen. Es sind von allen temporären Zufälligkeiten befreite Gesten, die die gegenständliche Malerei auf ein Minimum reduzieren, um die Macht der Sinnbilder zu unterstreichen. Immer wiederkehrende Motive vermitteln eine Fülle von Assoziationen, an die sich Erinnerungen knüpfen, ohne dass wir sie genau zu definieren wüssten, denn die «Malerei ist ausschliesslich eine Malerei von Legenden. […] Die Legenden haben wirklich stattgefunden […].»(2) Cucchis Glaube an die Authentizität der Bilder ist mit einem Realitätsverständnis verknüpft, das stärker auf die Wirklichkeit mythischer Urbilder baut als auf die vergänglichen Erfahrungen der Gegenwart.
Es geht nicht um eine korrekte Form im Sinne einer Idealform, sondern eines Idealbildes. Dementsprechend sind die Motive nie schön oder auch realistisch in Relation zu ihrem Naturvorbild, ihre Angemessenheit orientiert sich ausschliesslich an ihrer Aussage. Damit steht Cucchi in einer nordeuropäischen Tradition, wie sie insbesondere im deutschen Idealismus formuliert und im Bereich der bildenden Kunst in unterschiedliche Avantgardebewegungen Eingang fand. Zugrunde liegt eine Definition von Schönheit, wie sie Friedrich Schlegel für die Romantik formulierte.
Schlegel unterscheidet zwischen den Begriffen des «Schönen» und des «Interessanten»; das Interessante wird zum Beurteilungskriterium für die Qualität eines zeitgemässen ästhetischen Objektes. Massstab ist nicht mehr die Schönheit als zeitloses Ideal, die in der klassischen Antike ihre gültige Formulierung gefunden hat, sondern die Idee einer Wahrheit, die sich formal unterschiedlich konkretisieren kann. Das Interessante wird zum zeitgemässen Äquivalent des vergangenen Schönen und so letztlich der neue Begriff der Schönheit. So setzt etwa Franz Marc als Faktum: «Schönheit = Wahrheit, Hässlichkeit = Unwahrheit».(3) An anderer Stelle folgert er, das Wesentliche sei «nur der Inhalt (Lebens-Inhalt) […], das Wie ganz gleichgültig oder besser gesagt: die Folge des Inhaltes (Gefühls)».(4)
Diese Aussage würde auch Cucchi unterschreiben, allerdings ist sein Zugriff weit von der religiös verklärenden Interpretation der deutschen Romantik und ihrer Nachfolger entfernt. Ihm geht es vielmehr um eine Wahrheit, die in einem mythischen Vorfeld liegt, in dem die Bilder noch nicht auf Erklärungen angewiesen waren. In seinen Werken fällt das Fehlen einer konkreten Zeit in einem konkreten Raum auf. Lebendige Vegetation existiert nicht; stattdessen gibt es grenzenlose Meere, zerklüftete, öde Flächen und Sandwüsten. Menschen tauchen nur in archaischen Idealbildern – als Heroen oder Barbaren – auf oder aber als embryonale Wesen oder Totenköpfe. Cucchi begreift vergangene, mythische Zeit als realpräsent und macht sie damit für die Gegenwart fruchtbar.
Getragen wird diese Haltung von der Überzeugung, dass der Künstler mit seiner Arbeit die Verpflichtung eingeht, Zeichen und Signale zu setzen, die eine Lösung für die Konflikte der Gegenwart andeuten. Für Cucchi kollidiert Vergangenheit nicht mit der eigenen historischen Situation, sie besitzt vielmehr einen von realen Zeitläufen unabhängigen Ewigkeitswert.
Carla Schulz-Hoffmann
(1) Der von Achille Bonito Oliva eingeführte Begriff «Transavanguardia» bezeichnet überwiegend die italienische Variante des Neoexpressionismus der späten 1970er und 1980er-Jahre. Vgl. u. a. Achille Bonito Oliva, La Transavanguardia Italiana, Mailand 1980.
(2) «La pittura è solo quella delle leggende. […] Le leggende sono veramente accadute […].» Enzo Cucchi, La ceremonia delle cose / The Ceremony of Things, hrsg. Von Mario Diacono, New York 1985, S. 49.
(3) Und Marc betont weiter: «Warum sollen wir nicht von wahren und unwahren Bildern sprechen – Du sagst dafür rein und unrein, meinst aber dasselbe. Und die, welche im Wahren das Schöne, Reine und das Unschöne als unwahr bezeichnen, meinen auch das gleiche.» Franz Marc, Schriften, hrsg. von Klaus Lankheit, Köln 1978, S. 178.
(4) Franz Marc, Briefe aus dem Feld, Berlin 1940, S. 61.
Weitere Werke von Enzo Cucchi in der Kunstsammlung der Baloise:
Inv.-Nr. 0531, Ohne Titel, 1987, Kugelschreiber auf Papier, 17 x 24 cm
Inv.-Nr. 0533, Ohne Titel, 1987, Kugelschreiber und Tusche auf Glanzpapier, 9,7 x 12,3 cm
Inv.-Nr. 0543, Ohne Titel, 1988, Bleistift und Kohle auf Papier, 25 x 17,5 cm
Inv.-Nr. 0544, Ohne Titel, 1988, Bleistift und Kohle auf Papier, 17,5 x 24,9 cm
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