Trägerin des Baloise Kunst-Preises 2016.
1964 veröffentlichte der französische Literaturtheoretiker und Kulturphilosoph Roland Barthes den bahnbrechenden Essay «Rhetorik des Bildes», in dem er ein typisches Fotostillleben einer Werbeagentur untersuchte (ein Reklamebild für Panzani, eine in Frankreich produzierte Marke «italienischer» Nahrungsmittel). Jedes Objekt auf dieser Fotografie – frisches Gemüse und Konserven, die aus einer Einkaufstasche quellen – ist in Kombination mit der entsprechenden Beleuchtung und Komposition darauf ausgerichtet, die industriell produzierten Lebensmittel bäuerlich und traditionell wirken zu lassen. Kultur wird als Natur präsentiert, Konvention als Normalität. Im selben Jahr drehte Jean-Luc Godard den Film «Une femme mariée», in dem eine junge Frau darüber nachdenkt, wie «Weiblichkeit» in den Massenmedien konstruiert und vermarktet wird. Die Pop-Art hatte damals Hochkonjunktur, und die Situationisten strapazierten die Bilder und Slogans der Konsumgesellschaft, bis ihre Widersprüchlichkeit offen zutage trat. Bald begannen feministische Künstlerinnen und Filmemacherinnen wie Babette Mangolte, Chantal Akerman und Agnès Varda Werke zu produzieren, in denen die Mainstreamkultur als Zeichensystem betrachtet wurde, das man unterlaufen, neu kombinieren und auf den Kopf stellen konnte.
Diese semiotischen Basteleien bestimmten in der Folge auch einen Grossteil der als «postmodern» etikettierten Kunst, die Werbung, Kino, Fernsehen und Kunstgeschichte gleich Kühlschränken plünderte und neu arrangierte(1). Die gebürtige Kanadierin Sara Cwynar lebt in New York und macht eine Kunst, die aus der Tradition dieser rhetorischen Spielereien heraus zu verstehen ist. Sie interessiert sich dafür, wie Konsumgüter, Kosmetikartikel, Farben, Werbung, Industriedesign und Kunststoffe unser Verständnis von sozialem Geschlecht, Gestik, Sexualität und Begehren prägen. Woher kommt das Ich? Wo enden die Konsumgüter, und wo beginnt das Ich?
Tracy ist eine Freundin von Cwynar. Sie waren seit zehn Jahren miteinander bekannt, als diese Bilder entstanden. Tracy verfügte über Hintergrundwissen in Design und Art Direction, verstand also etwas von konstruierter Fotografie und wusste, wie man einzelne Elemente als Set aus Angeboten und Gegenangeboten choreografieren kann. Für die Aufnahmen wählte sie ihre eigenen Kleider, legte ihr eigenes Make-up auf und nahm eigene, selbst gewählte Posen ein, obwohl gerade hier der Begriff des «Eigenen» zur Diskussion steht. Die Auswahl der Requisiten, des Arrangements und der Beleuchtung hat Cwynar getroffen, obwohl genau diese «freie Wahl» hinterfragt wird.
Das ganze Ensemble dieser Bilder wirkt spielerisch und dennoch ernst. Die Atmosphäre präziser Unbeholfenheit und kalkulierten Ungeschicks hat ihren eigenen Charme. Es gibt Anspielungen auf die 1980er-Jahre, das Jahrzehnt, in dem Cwynar geboren ist, aber auch das Jahrzehnt, in dem Barthes’ Theorien ihres kritischen Gehalts beraubt und zu Anweisungen für die Werbebranche umfunktioniert wurden; das Jahrzehnt auch, in dem Ironie zunehmend als stilbewusste Heuchelei aufgefasst wurde und dem Fortschritt die Puste auszugehen schien. Cwynar arbeitet in ihren Bildern nicht nur die Zeichen der Konsumgesellschaft auf; sie arbeitet die letzten fünfzig Jahre dieser Aufarbeitungen auf.
David Campany
(1) Im englischen Originaltext heisst es «ice-boxes to be raided and remade». In seiner Ausstellung «Raid the Icebox» (1969) arrangierte Andy Warhol Museumsobjekte in den Ausstellungsräumen so, wie er sie vermutlich im Depot vorgefunden hatte (Anm. d. R.).
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